Selbstmitgefühl kann Sportler:innen bei der Bewältigung von Herausforderungen unterstützen und zu einer besseren Leistung führen. In diesem Blog erkläre ich dir die Grundlagen des Selbstmitgefühls, seine Vorteile im Allgemeinen und für Sportler:innen. Außerdem erhältst du konkrete Übungen und Tipps, wie du direkt Selbstmitgefühl in dein Leben als Sportler:in integrieren kannst.

Selbstmitgefühl oder wie ich lernte, mir selbst eine gute Freundin zu sein - im Training, im Wettkampf, im Job, im Leben.

"Du Idiot. Hanna, wie konnte dir das passieren? Schau mal in den Spiegel, du bist so ein Looser. Ich hasse dich!"

Gar nicht so einfach, diese eigenen, harten Worte zu lesen... Das war tatasächlich lange Zeit meine eigene innere kritische Stimme, der kleine Teufel auf meiner Schulter, der mir ständig solche niederschmetternden Worte an den Kopf geworfen hat. Heute kann ich dankbar sagen, dass ich Selbstmitgefühl für mich entdeckt und mir eine freundlichere, sanftere und mitfühlende innere Stimme zugelegt habe. Der innere Kritiker meldet sich zwar von Zeit zu Zeit, doch ich kann gelassen und selbstfreundlich mit ihm umgehen :)

Ich weiß aus eigener Erfahrung und aus meiner Arbeit als Coach für Achtsamkeit und Mentale Stärke, dass viele Sportler:innen und Performer:innen im Allgemeinen einen starken inneren Kritiker haben, der sie mit Selbstbestrafung motiviert und sie oft auf selbstzerstörerische Weise an ihre Grenzen bringt, was zu einer Verschlechterung der  mentalen Gesundheit und zu emotionalem Leid führen kann. Dies wird auch durch die Forschung belegt (Reis et al., 2015, Ceccarelli et al., 2019, Mosewich, Crocker, & Kowalski, 2014).

Es gibt einen anderen Weg, einen weniger destruktiven und gesünderen. Es ist etwas, das wir lernen können, eine Fähigkeit, die uns hilft, Spitzenleistungen zu erbringen: Selbstmitgefühl. Selbstmitgefühl ist eine Praxis, die mir hilft, mir selbst ein guter Freund zu sein, wenn ich eine schwierige Zeit erlebe, wenn ich es am meisten brauche - um ein innerer Verbündeter zu werden, anstatt ein innerer Feind.⠀

In diesem Blog erkläre ich die Grundlagen des Selbstmitgefühls, seine Vorteile im Allgemeinen und für Sportler, und ich gebe dir einige Übungen und Tipps, wie du damit anfangen kannst.

Was ist Selbstmitgefühl?

In einfachen Worten: Selbstmitgefühl bedeutet, dass wir uns selbst so behandeln, wie wir einen guten Freund oder eine gute Freundin behandeln würden, wenn er oder sie eine schwere Zeit hat. Es erfordert ein Bewusstsein für unser eigenes persönliches Leiden und den Wunsch, sich selbst durch eine emotional schwierige Zeit zu helfen.

Für eine konkretere und umfassendere Definition von Selbstmitgefühl müssen wir seine Kernbestandteile betrachten: Selbstmitgefühl, Mitmenschlichkeit und Achtsamkeit (Neff, Germer, 2018):

Selbstfreundlichkeit versus Selbstverurteilung

Selbstfreundlichkeit bedeutet, dass wir unterstützend und ermutigend sind, anstatt uns selbst anzugreifen und für unsere Unzulänglichkeiten zu bestrafen. Wir bieten uns selbst Wärme und bedingungslose Akzeptanz an.
Erinnere dich an eine Trainingseinheit oder ein Rennen, das nicht so gelaufen ist, wie du es erwartest hast, eine schwierige Situation bei der Arbeit, in der du einen Fehler gemacht haben. Wie hast du reagiert? Was hast du zu dir selbst gesagt? Wie hast du dich selbst in diesem Moment behandelt? Wahrscheinlich warst du nicht so freundlich und unterstützend zu dir selbst, oder? 

Gemeinsame Menschlichkeit versus Isolation

Das zweite Kernelement des Selbstmitgefühls ist die gemeinsame Menschlichkeit. Das bedeutet, dass wir anerkennen, dass Herausforderungen im Leben und persönliches Versagen Teil des Menschseins sind. Wir alle haben Schwierigkeiten im Leben, wir alle erfahren Leid - das ist eine unvermeidliche Tatsache des Lebens. Das Seltsame ist, dass wir glauben, dass die Dinge gut laufen sollten und dass etwas schief gelaufen sein muss, wenn sie es nicht tun. Es ist ganz natürlich, dass wir Fehler machen und dass wir Herausforderungen im Leben erleben. Dennoch neigen wir dazu, nicht rational darüber zu denken, wenn uns dies widerfährt. Stattdessen denken wir, dass wir die Einzigen sind, die eine schwere Zeit durchmachen, und wir fühlen uns in diesen Momenten isoliert und allein. In dem Moment, in dem wir uns daran erinnern, dass Leiden Teil der menschlichen Spezies ist und dass wir alle irgendwie leiden, verbinden wir uns wieder mit anderen. Und diese Verbindung hilft uns, mit den Schwierigkeiten im Leben umzugehen. Dies ist mit dem Element der gemeinsamen Menschlichkeit gemeint.

Achtsamkeit versus Über-Identifikation

Achtsamkeit ist die dritte und eine wesentliche Komponente des Selbstmitgefühls. Denn wir müssen bereit sein, uns zuzuwenden und anzuerkennen, wenn wir leiden. Wir müssen lange genug bei diesem Schmerz "sein", um mit Freundlichkeit und Fürsorge reagieren zu können. Um Selbstmitgefühl zu entwickeln, ist Achtsamkeit tatsächlich der erste Schritt, den wir "tun" müssen. Wir müssen präsent sein, uns dessen bewusst sein, was in Körper und Geist vor sich geht, wenn wir eine schwierige Zeit durchleben, um auf eine neue Art und Weise reagieren zu können - mit Freundlichkeit und Wärme.

Vorteile des Selbstmitgefühls

Die Forschung zeigt große mentale und physische Nutzen des Selbstmitgefühls

Nachdem wir nun die Komponenten und die Bedeutung von Selbstmitgefühl erforscht haben, lass uns einen kurzen Blick auf die Vorteile der Selbstmitgefühlspraxis werfen - insbesondere für Läufer:innen. Die Forschung über Selbstmitgefühl wird immer umfangreicher, vor allem durch die Arbeit von Christopher Germer, PhD, und Kristin Neff, PhD - beides Pioniere und Experten auf dem Gebiet des Selbstmitgefühls und Gründer des Center for Mindful Self-Compassion.

Das Praktizieren von Selbstmitgefühl unterstützt unser gesamtes Wohlbefinden (MacBeth, Gumley, 2012; Zessin, Dickhauser, Garbade, 2015; Neff et al., 2018):

Reduktion (weniger):                                      Zunahme (mehr):
Depression                                                               Glück
Ängstlichkeit                                                            Lebenszufriedenheit
Stress                                                                        Selbstvertrauen
Scham                                                                       körperliche Gesundheit

Selbstmitgefühl steigert nicht nur unser Wohlbefinden, sondern auch unsere Fähigkeit, wieder auf die Beine zu kommen (Resilienz). Menschen mit Selbstmitgefühl haben weniger Angst vor Misserfolg (Neff et al., 2005) und eine höhere Motivation, nach einem Misserfolg zu lernen (Braines, Chen, 2012). Es gibt noch viele weitere Untersuchungen über die Vorteile der Selbstmitgefühlspraxis. Werfen wir einen spezifischen Blick auf die Vorteile für Sportler:innen und Läufer:innen

Vorteile des Selbstmitgefühls für Sportler:innen

Selbstmitgefühl hilft Sportler:innen, mit schwierigen Situationen und Rückschlägen umzugehen

Im Bereich des Sports wurde untersucht, wie Selbstmitgefühl Sportlern und Sportlerinnen helfen kann, mit emotional herausfordernden Rückschlägen oder Hindernissen umzugehen, denen sie begegnen. Hier ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse.

Athleten und Athletinnen, die Selbstmitgefühl praktizieren

Nun haben wir uns mit dem Selbstmitgefühl und seinen Vorteilen befasst - im Allgemeinen und für Sportler:innen.
Die Frage ist nun, wie man damit anfängt. Hierauf werde ich im nächsten Abschnitt eingehen.

Selbstmitgefühl - Übungen & Tipps zum Anfangen

Das evidenzbasierte 8-wöchige Training Achtsames Selbstmitgefühl (MSC) folgt einer systematischen Struktur, um die Fähigkeit des Selbstmitgefühls aufzubauen

Selbstmitgefühl kann auf unterschiedliche Weise praktiziert werden. Es gibt viele Übungen, informelle Praktiken und formelle Meditationen. Wenn du wirklich die Fähigkeit entwickeln möchtest, dir selbst gegenüber ein freundlicher und mitfühlender Freund zu sein, gibt es das evidenzbasierte 8-Wochen-Training Achtsames Selbstmitgefühl (MSC), das von Christopher Germer und Kristin Neff entwickelt wurde. Das Training folgt einer systematischen Struktur. Es wird in einem Gruppenrahmen von qualifizierten Lehrern unterrichtet, die eine fundierte Ausbildung absolvieren und sich zu einer fortlaufenden Praxis verpflichten müssen (ich selbst bin ausgebildete MSC-Lehrerin).

Die folgenden Selbstmitgefühlsübungen sind alle Teil des MSC-Trainings:


- Selbstmitgefühlspause

- Mitfühlende Bewegung

- Liebevolles Atmen

- Selbstmitgefühlsübungen im täglichen Leben

- Fußsohlen

- Liebevolle Freundlichkeit

- Mitgefühl geben und empfangen

Nachfolgend eine kleine Übung, um Selbstmitgefühl zu erfahren, die du direkt ausprobieren kannst

Um eine erste Vorstellung von Selbstmitgefühl zu bekommen, können wir mit der folgenden Übung beginnen (von mir angepasst, ursprünglich von Neff, Germer, 2018), die ich im Folgenden erläutern werde. Besorge dir Stift und Papier. Du brauchst etwa 15-30 Minuten.

Übung: Wie würdest du eine:n gute:n Teamkolleg:in behandeln?

Nimm dir einen Moment Zeit, um über die folgenden Fragen nachzudenken. Du kannst nach dem Lesen die Augen schließen:

1. Erinnere dich an eine Situation, in der ein guter Freund, ein Teamkollege, in irgendeiner Weise zu kämpfen hatte - z. B. eine Verletzung, Corona-Infektion, ein schlechtes Rennen, eine verpasste Qualifikation, eine schwierige Zeit mit der Familie oder bei der Arbeit, während es dir selbst ziemlich gut ging. Wie reagierst du normalerweise in einer solchen Situation deinem Freund, deiner Teamkollegin gegenüber? Was sagst du ihm oder ihr? In welchem Tonfall und mit welcher Körpersprache und Körperhaltung? Nimm dir die Zeit, alles aufzuschreiben, was dir in den Sinn kommt.

2. Denke nun über die folgenden Fragen nach - du kannst nach dem Lesen die Augen wieder schließen:

Erinnere dich nun an Situationen, in denen du in irgendeiner Weise zu kämpfen hattest, einen Rückschlag erlebten - z. B. eine Verletzung, ein Ausscheiden aus einem Rennen, ein verlorenes Spiel, ein verpasstes Qualifikationsturnier. Wie reagierst du normalerweise auf dich selbst? Wie ist dein Tonfall, deine Körperhaltung? Schreibe alles auf, was dir in den Sinn kommt.

3. Nimm dir  etwas Zeit, um über die Unterschiede und Muster nachzudenken, die du vielleicht herausfindest.

4. Im letzten Schritt bist du eingeladen, dich gedanklich in deine schwierige Situation zurückzuversetzen und dir selbst freundliche Worte anzubieten, einfache Sätze wie diese:

Kannst du die Sätze nachempfinden? Wenn du Schwierigkeiten hast, Worte zu finden, kannst du auch an das denken, was andere zu dir gesagt haben oder was du zu deinen Teamkolleg:innen oder Freund:innen sagen könntest. Du kannst eine Hand über dein Herz legen, dich selbst sanft berühren oder umarmen, um dich daran zu erinnern, dass du dir jetzt selbst Freundlichkeit und Mitgefühl entgegenbringst.

Missverständnisse und Vorurteile über Selbstmitgefühl - Ausblick

Selbstmitgefühl wird oft missverstanden, besonders von High-Performern: z.B. "Das ist zu soft, das macht mich schwach, ich muss hart sein!" Ich werde mich in einem meiner nächsten Blogs näher mit den Missverständnissen über Selbstmitgefühl befassen. Jetzt bin ich erst einmal neugierig auf deine Erfahrungen mit dem inneren Kritiker. Wie gehst du mit dir selbst um, wenn z.B. ein Training nicht gut läuft oder du einen Fehler machst? Was passiert, wenn du dir selbst Worte der Freundlichkeit und des Mitgefühls entgegenbringst?

Quellen:

Cecarelli et al. (2019). Self-compassion and psycho-physiological recovery from recalled sport failure. Frontiers in Psychology, 10, 1-14. doi:10.3389/fpsyg.2019.01564

Ferguson et al. (2015). Self-Compassion and eudaicmonic well-being during emotionally difficult times in sport. Journal of Happiness Studies, 16(5), 1263-1280.

Germer, C., & Neff, K. (2019). Teaching the Mindful Self-Compassion Program: a guide for professionals. New York: Guilfort Press.

Huysmans, Z., & Clement, D. (2017). A preliminary exploration of the application of self-compassion within the context of sport injury. Journal of Sport & Exercise Psychology, 39, 56-66. doi:10.1123/jsep.2016-0144

Magnus et al. (2010). The role of self-compassion in women's self-determined motives to exercise and excercis-related outcomes. Self and Identity, 9, 363-382.

Mosewich et al. (2013). Applying self-compassion in sport: An intervention with women athletes. Journal of Sport and Excercise Psychology, 35(5), 514-524.

Reis et al. (2019). Exploring self-compassion and versions of masculinity in men athletes. Journal of Sport and Exercise Psychology, 41, 368-379. doi:10.1123/jsep.2019-0061

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erstellt von
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Hanna Tempelhagen

Mindfulness & Mental Performance Coach / Mental Health & Wellbeing Expert von Hamburg

Altersklasse: W 40
Verein: SCC Berlin
Trainer: Tobias Singer

Meine Disziplinen
Halbmarathon Leichtathletik 10 Kilometer Marathon

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