Ich drücke meine Mama ganz fest, dann stelle ich mich auf. Wettkämpfe vor der Haustür in meiner Heimat sind einfach genial. Warum ich den Allgäu Panorama Marathon nicht schon längst gelaufen bin, ich weiß es nicht. Auch dieses Mal habe ich mich erst drei Tag vorher angemeldet. Und es war gar nicht so einfach, mich zwischen Halbmarathon und Marathon mit knapp 1.500 Höhenmetern zu entscheiden (der Ultra mit fast 70 Kilometern wurde nur am Rande angedacht). Die Wahl fiel schließlich auf den Halben – über 200 Höhenmeter inklusive. Es soll ein kleines Vortesten für den Jungfrau-Marathon am 9. September sein.
Mein Tempo pendelt sich zwischen 4:25 und 4:30 min/km ein. Ich weiß, dass ich das über einen längeren Zeitraum halten kann, sofern die Tagesform passt. Am Illerdamm wechseln wir kurz nach Kilometer 3 auf die andere Seite. Nach der Brücke folgt ein kurzer, steiler An- und Abstieg. Dort habe ich als Kind schon oft mein Fahrrad geschoben.
Die Zeit bis zur ersten Verpflegungsstation bei 5 Kilometern ist ruck, zuck um. Ich greife nach einem Wasser, auch wenn ich noch keinen Durst verspüre. Kurz schiele ich nach Weiler – ein kleiner Ort nahe Fischen, wo ich jahrelang ein Pflegepferd hatte: Isabella, ein Haflinger. Es kommt mir vor wie in einem anderen Leben.
Kurz darauf erreichen wir Fischen. Es geht weg vom Illerdamm, hinein in den Eichhörnchenwald. Keine Ahnung, ob das ein „offizieller Name“ ist – früher hieß das jedenfalls so. Bevor wir in den Wald einbiegen, rennen wir nahe am Friedhof vorbei. Hier sind meine geliebten Großeltern begraben. Als in diesem Moment auch noch die Kirchenglocken läuten, ist das ganz, ganz emotional für mich. Minutenlang wische ich mir die Tränen aus den Augen. Oma und Opa sind bestimmt irgendwie dabei.
Die Wege sind teils recht schmal, ein paar Wurzeln ragen hervor – ich versuche mich besonders gut zu konzentrieren. Das Tempo kann ich nach wie vor halten, wobei ich näher an der 4:30 als an der 4:25 laufe. Schließlich muss ich mir einige Reserven für den Anstieg aufsparen. Meine Mama hat mich bereits vorgewarnt: Es wird steil.
Bei der nächsten Getränkestation schnappe ich ein Iso-Drink. Mir geht es fantastisch, aber ich merke, dass ein paar Kohlenhydrate sinnvoll sind. Bevor wir bei der 12-Kilometer-Marke zur Bergetappe ansetzen, geht es noch ein Stückchen am Illerdamm in Richtung Oberstdorf. Am Wendepunkt steht ein Herr, der uns Läufer an die Hand nimmt und um die scharfe Kurve schleudert. Ich habe das Gefühl, für ein paar Sekunden die Bodenhaftung zu verlieren. Wie cool ist das bittschön?! Außerdem ruft er mir zu: „Eine oder zwei holst du noch.“ Dank des Wendepunktes sehe ich, dass mindestens drei Frauen vor mir sind. Wie viele insgesamt, ich habe keine Ahnung.
Nun ist es soweit: In Rubi geht es steil bergauf. Erst auf einem etwas rutschigen Grasweg, dann auf Schotter. Im Blickfeld die Schöllanger Burg. Ich sammle regelmäßig ein paar Höhenmeter bei meinen Trainingsläufen, aber der „richtige Berg-Crack“ bin ich nicht. Somit haut die steile Strecke voll rein. Weil ich mich aber weiterhin super fit fühle, renne ich. Unmittelbar vor mir gehen die meisten Läufer. Und als mir ein Herr – gemütlich auf der Bank sitzend – zuruft: „Bleib dran. Du bist die Einzige, die hier rennt“, werde ich kurz unsicher. Sollte ich ebenfalls lieber gehen, um Energie zu sparen? Was, wenn meine Muskeln gleich „zumachen“? Ich verscheuche diese Gedanken aber sofort und „bleibe dran“.
Geschafft, ich bin oben! Obwohl ich diesen Streckenabschnitt seit meiner Kindheit nicht mehr gelaufen bin und daher kaum kenne, vermute ich, dass es ab jetzt nur noch bergab geht. Und das ist meine nächste Challenge: Beim Bergablaufen bin ich ein Schisser und lasse meist zu viel Zeit liegen. Heute nicht. Ich lasse es rollen und erhole mich sogar etwas dabei. Meine Uhr zeigt 3:36 min/km. Das sollte ich mal auf der Straße laufen…
In unmittelbarer Nähe zum Auwaldsee wird die Strecke nun wieder flach. Für ein paar Meter muss ich kämpfen, um wieder in meinen Rhythmus zu kommen. Erst fühlt es sich ein wenig unrund an, gibt sich zum Glück aber schnell wieder. Hier ist auch bereits der vorletzte Verpflegungspunkt, ich nehme mir Wasser. „Eine halbe Minute Rückstand zur nächsten Frau“, erfahre ich zudem.
Jetzt geht es gerade aus und leicht bergab. Die besten Bedingungen, um nochmals Gas zu geben. Und ich traue mich. Noch fünf Kilometer. Zwar brennt nun die Sonne vom Himmel, die Temperaturen explodieren, doch ich fühle mich nach wie vor spitze. Zwei Frauen sammle ich noch ein, und am letzten Verpflegungsstand schütte ich mir nur einen Becher Wasser über den Kopf. Regelmäßig checke ich meine Uhr, ich kann eine Pace zwischen 3:57 und 4:10 min/km halten. Yes!
Auf den letzten drei Kilometern muss ich dennoch beißen. Auf welcher Position ich bin, erfahre ich erst, als mir eine Frau kurz vor dem Ziel „2. Frau“ zuruft. Ich freue mich megamäßig! Und erst recht, als ich meine geliebte Mama erblicke. Rund 500 Meter vor dem Ziel – ich bin überglücklich. Platt, aber nicht völlig entkräftet überquere ich nach 1:32:12 h die Ziellinie. 2. Platz bei den Frauen, 1. Platz in meiner Altersklasse W35.
Das Steinmännchen, das ich neben einem Trinkgürtel als Preis bekomme, erhält einen Ehrenplatz. Und wird mich ständig an drei Dinge erinnern: einen fantastischen Lauf, einen großartigen Tag mit einer spitzen Organisation, viel Herzblut und tollen Menschen – und an eine Anmeldung für den 12. August 2018. Für welche Distanz, das wird es mir hoffentlich auch noch verraten.